Aus meiner und eurer Stimme entsteht die Freiheit

Ich beginne bei mir selbst – mit Medina. Ein Mädchen in meiner Familie zu sein, war nie ein Hindernis. Ich bin in einem Haus mit fünf Schwestern und meiner Mutter aufgewachsen – sieben Frauen, sieben Herzen, die stark füreinander schlagen. In diesem warmen Kreis waren Liebe undUnterstützung Teil unseres Alltags. Sowohl im Kosovo als auch in Deutschland hatte ich die Freiheit, zu sprechen, zu lernen, zu träumen und ich selbst zu sein.
Unser Vater hat uns stets bedingungslos unterstützt – nicht nur, indem er uns alles Notwendige ermöglichte, sondern auch, indem er uns zeigte, was tiefer Respekt gegenüber einer Frau wirklich bedeutet. Auch unser Bruder, der einzige Junge unter uns, wuchs nicht mit einem Gefühl von Macht über seine Schwestern auf, sondern mit dem Bewusstsein, Verantwortung zu tragen – sie zu schützen und zu achten. Was mein Vater und mein Bruder getan haben – jeder auf seine Weise – ist für mich ein Vorbild, das ich zutiefst respektiere und mit Tränen in den Augen als das größte Geschenk meines Lebens in Erinnerung behalte. Für mich war es immer ein schönes Gefühl, ein Mädchen zu sein – eine Kraftquelle, die mir Sicherheit, Liebe und Freiheit gegeben hat.
Doch als ich nach Deutschland kam, lernte ich eine andere Realität kennen – eine schmerzhafte, erschütternde und oft schwer zu verarbeitende. In der Schule traf ich Mädchen aus verschiedenen Ländern. Ich hörte Geschichten, die mich sprachlos machten. Mädchen, die in ihren Herkunftsländern nicht zur Schule gehen durften, die als Minderjährige zwangsverheiratet wurden, die gelernt hatten, nicht zu sprechen, nicht zu träumen, nicht zu existieren. Einige waren vor dem Krieg geflohen, aber lebten noch immer im Krieg – mit Angst, Trauma und Erinnerungen.
Diese Geschichten haben meine Seele in zwei Teile gespalten: Ein Teil war voller Dankbarkeit für alles, was ich selbst gehabt hatte. Der andere konnte nicht mehr schweigen. Aber ich bin nicht blind gegenüber der Realität. Auch in meinem Land, in meiner Gesellschaft, gibt es noch immer Frauen, die keine Unterstützung erfahren. Ich habe mit Schmerz Geschichten gehört von Frauen, die durch Gewalt zerstört wurden – durch patriarchale Mentalitäten und Männer, die statt zu schützen, verletzt haben. Es gibt Mütter, die ihre Töchter in Angst großziehen. Mädchen, die sich nicht trauen, die Schule, den Beruf oder das Leben zu wählen, das sie wollen. Frauen, die in der Stille leiden – gefangen in einer Gesellschaft, die sie oft verurteilt, einschränkt und verletzt. Und das geschieht nicht nur weit weg – es geschieht auch hier, in unseren Vierteln, auf unseren Straßen, verborgen im Schweigen. Auch in Deutschland – in einem hochentwickelten Land – gibt es Ungleichheiten.
Ich habe selbst gesehen, wie Frauen und Männer am selben Arbeitsplatz mit denselben Aufgaben unterschiedlich bezahlt werden – Männer oft mehr.Das hat mich tief erschüttert. Denn Arbeit hat kein Geschlecht. Weder Einsatz noch Fähigkeit. Und doch spiegelt die Realität oft eine stille Ungerechtigkeit wider. Aber ich möchte eines klarstellen: Ich bin nicht gegen Männer. Im Gegenteil – ich bin dankbar für viele Männer, die mit ihrer Arbeit, ihrer Kraft und ihrem Herzen ihre Familien unterstützen und ihren Töchtern, Frauen und Schwestern zur Seite stehen. Es gibt Berufe, die körperlich sehr fordernd sind und die Männer mit Hingabe ausüben,um den Alltag zu tragen. Das verdient Respekt.
Doch Respekt darf keine Einbahnstraße sein. Auch die Arbeit und das Engagement einer Frau verdienen Anerkennung – und zwar gleichberechtigt. Genau deshalb fühle ich mich verpflichtet, zu sprechen. Ich will Ungerechtigkeit nicht als etwas „Normales“ hinnehmen. Freiheit und Gleichberechtigung dürfen kein Privileg sein. Sie müssen ein Recht für jedes Mädchen sein – überall, jederzeit.
Niemand wählt, wo er geboren wird. Aber jedes Mädchen verdient es, mit Liebe, Würde und Respekt aufzuwachsen – ohne Angst und ohne Schweigen. Ich stehe mit ganzem Herzen und ohne Vorbehalt an der Seite jedes Mädchens, das mit Ungerechtigkeit und Schwierigkeiten konfrontiert ist.
Ich hatte das Glück, eine Familie zu haben, die mich in jedem Schritt unterstützt hat – die mir beigebracht hat, dass es ein großes Geschenk ist, einMädchen zu sein. Eine Kraft, eine Quelle des Stolzes. Diese Unterstützung hat mir den Mut gegeben, die Stimme derer zu sein, die nicht gehört werden. Für ihre Rechte zu kämpfen. Und die Welt daran zu erinnern, dass Gleichberechtigung und Respekt das Fundament jeder Gesellschaft sein müssen.
Ein Mädchen zu sein, ist ein Geschenk – ein Geschenk, das mit all unserer Kraft geehrt und geschützt werden muss. Dieser Text ist jeder einzelnen Tochter gewidmet – für jeden ihrer Träume und für jede Zukunft, die sie sich wünscht und die sie – mit ihrer eigenen Stärke – immer erreichen kann, wenn sie für sich selbst kämpft.
20.05.2025 | Medina, 17 Jahre, Kosovo, BIKb
